Kreis.BLICK!

Wenn Jugendliche Grenzen über schreiten: die Brücke Dachau hilft Carolin Wagner ist 40 Jahre alt und arbeitet seit 2004 bei der Brücke Dachau e.V.. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin (FH) und Mediatorin. Bis 2010 war sie im Bereich der Jugendhilfe im Strafverfahren tätig, seit 2010 leitet sie zusammen mit Stefan Korn- theuer die Fachstelle für außergerichtliche Konfliktschlichtung bei der Brücke Dachau e.V.. In diesem Kontext und führt sie auch den Täter-Opfer-Ausgleich durch. Carolin Wagner Brücke Dachau e.V. Telefon: 08131/6186-28 carolin.wagner@bruecke-dachau.de Ihr Kontakt zur Brücke Dachau Führerschein, Seniorenhilfe, Umweltschutz – wir sind Anlaufstelle für viele Belange. Ein wichtiger Be- reich ist die Jugendhilfe. Diese greift auch ein, wenn beispielsweise ein Heranwachsender straffällig ge- worden ist. Die Aufgabe der Jugendhilfe im Straf- verfahren (früher Jugendgerichtshilfe) übernimmt für uns seit bald 35 Jahren die Brücke Dachau e.V. Hannah (Name geändert) rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum. Sie hat ein schlechtes Gewissen. Kein Wunder, die 15-Jährige ist straffällig geworden. Weil sie unbedingt nach dem Dachauer Volksfest auf eine After-Wiesn-Party woll- te, hat sich Hannah kurzerhand den Ausweis ihrer älteren Schwester „geliehen“ – ohne deren Wissen. Sie wurde er- wischt. Hannah bekommt eine Anzeige wegen Missbrauchs von Ausweispapieren. Ihr Fall landet bei der Staatsanwalt- schaft. Diese schickt Hannah zur Brücke Dachau e.V., dem Verein, der sich in unserem Landkreis um die Strafrechts- pflege von Jugendlichen kümmert. Deswegen sitzt Hannah hier: Sie hat einen Termin für eine Leseweisung mit Carolin Wagner. Denn so soll Hannah aus ihrem Fehltritt lernen: Sie redet mit der Diplom-Sozialpädagogin, Mediatorin und Brücke-Mitarbeiterin über das Buch „Knallhart“ von Gre- gor Tessnow. Die Mitwirkung im Verfahren vor dem Jugendgericht ist laut Sozialgesetzbuch (§ 52 SGB VIII) Pflichtaufgabe des Jugendamtes, ausgeführt wird diese von dem freien Trä- ger Brücke Dachau e.V. „Es ist ganz normal, dass Jugend- liche in der Pubertät ihre Grenzen austesten wollen – und manchmal überschreiten sie diese eben“, sagt Geschäftsfüh- rerin Ursula Walder. Sie arbeitet wie alle ihre Mitarbeiter tagtäglich mit Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren zusammen, kennt ihre Probleme und Sorgen. „Wir behandeln sie aus unserer Sicht, also als Pädagogen, nicht als Juristen.“ Es geht um die jungen Menschen selbst, nicht um ihr Vergehen. „Die Jugendlichen werden hier sehr ernst ge- nommen. Sie können sich und ihre Tat erklären. Das macht viel aus“, ergänzt Carolin Wagner. Seit sechs Jahren wird die Leseweisung bei der Brücke Dach- au e.V. als außergerichtliches Verfahren und gelegentlich als Weisung bei einer Hauptverhandlung eingesetzt. Die Aus- wahl des Buches orientiert sich an der Lesekompetenz, den Interessen, der individuellen Lebenslage sowie – wenn mög- lich – an der begangenen Straftat des Jugendlichen. Knapp 100 Titel warten in den Regalen der Brücke in der Dachauer Altstadt auf ihren Einsatz. Sie unterscheiden sich neben den unterschiedlichen Themengebieten auch in Schweregrad und Seitenumfang. Zudem gibt es unterschiedliche Sparten. So- gar Sachbücher sind darunter. „Für viele Jugendliche ist es eine Herausforderung, sich in einem begrenzten Zeitraum auf ein Buch zu konzentrieren und es auch inhaltlich zu erfassen“, weiß Carolin Wagner. In einem Gespräch nach der Lektüre muss der Jugendliche der Sozialpädagogin Fragen zum Buch beantworten. Da- bei werden auch Transferfragen gestellt, das bedeutet, der Jugendliche muss sich intensiv mit der eigenen Lebenswelt auseinandersetzen. Durch die Leseweisung sollen nicht nur die Lesekompetenz ausgebaut, sondern im Speziellen die Re- flexionsfähigkeit sowie die Fähigkeit zur Empathie erweitert und das Problemlösungsdenken gefördert werden. Hannah hat Glück gehabt. Weil es sich bei ihrem Ver- gehen um ein kleineres Delikt handelt, konnte die Staatsan- waltschaft eine außergerichtliche Regelung („Diversion“) vor- schlagen. Auch, weil es ihre erste Straftat und sie geständig war. Denn das sind zwei weitere Voraussetzungen für eine Regelung außerhalb des Gerichtssaals. Um die angemessene strafrechtliche Reaktion zu finden, setzen sich die Mitarbeiter zunächst mit der Biografie des Jugendlichen auseinander. „Wir wollen wissen, wie denkt der Jugendliche, was hat er für einen Plan für sein Leben und wie schaut er im Nachhinein auf die Tat?“, berichtet Carolin Wagner. Im Jugendstrafrecht steht nicht die Tat imMittelpunkt, sondern der Jugendliche, erklärt die Diplom-Sozialpädagogin. Im vergangenen Jahr landeten 635 Jugendstraffälle bei der Brücke Dachau e.V.. In 66 Fällen hielten die Experten eine Leseweisung für das richtige Mittel. Bei Hannah und ihrer Leseweisung ging Carolin Wagner im Vorgespräch vor allem auf den Aspekt ein, dass das Mädchen seiner Schwester den Ausweis klaute. „Das finde ich wichtig. Du hast Deine Schwester hintergangen. War Dir das zu dem Zeitpunkt klar?“, wollte die Pädagogin wissen. Denn es geht um das Rechts- und Unrechtsbewusstsein. Das soll mit Hilfe der Leseweisung gestärkt werden. In „Knallhart“ beispielsweise geht es um einen Jugendlichen, der für den Leser vollkommen nachvollziehbar in illegale Machenschaften verwickelt wird. Falsche Entscheidungen markieren seinen Weg ins Verderben. Die drei Brücke-Exemplare von „Knallhart“ sind abgenutzt, schon oft hat Carolin Wagner das Buch Jugendlichen auferlegt. Und fast immer hat sie damit etwas erreicht: „Bei dem Buch sieht man wunderbar, dass man immer die Entscheidung hat – wie geht es mit meinem Leben weiter?“, sagt Carolin Wagner. Sie spricht mit Hannah über das Umfeld der Hauptfigur in „Knallhart“, das Versagen der Mutter im Buch, den Stellenwert von Freunden bei der Persönlichkeitsentwicklung. Die Jugend- lichen sollen Rückschlüsse auf ihr eigenes Leben ziehen. Als es vorbei ist, ist Hannah erleichtert. Sie hat ihre Lesewei- sung beendet und so ihr Strafverfahren abgeschlossen. Was bleibt, ist ein Eintrag ins Erziehungsregister. Aber auch der wird „bei guter Führung“ nach einigen Jahren gelöscht. „Es freut mich am meisten, wenn ich am Ende sogar die Rück- meldung bekomme: Es hat mir Spaß gemacht, das Buch zu lesen“, sagt Carolin Wagner. Denn dann wurde zusätzlich zur Auseinandersetzung mit der Straftat ganz nebenbei der Spaß am Lesen gefördert. Buchtipps der Brücke-Mitarbeiter: 1. „Freak“ von Rodman Philbrick; Ravensburger Buchverlag ; geeignet für Mädchen und Jungen bei normaler Leseleistung Inhalt: Als Kevin ins Nachbarhaus einzieht, ist er Max suspekt. Kleinwüchsig, mit seltsamen Beinschienen nur zu wenigen Schritten in der Lage weiß der groß ge- wachsene und kräftige Max nichts mit ihm anzufangen. Doch schon bald stellt sich Kevin als Superhirn heraus und bereichert Max‘ Leben. Pädagogik: Mut, Loyalität, Ehrlichkeit und der Glaube an sich selbst. 2. „Ich werde YouTube-Star“ von Florian Buschendorff; Verlag an der Ruhr ; Geeignet für Mädchen und Jun- gen bei eingeschränkter Leseleistung. Inhalt: Felix und Leon wollen erfolgreiche YouTuber werden. Doch sie erkennen, dass unter ihrer neuen „Be- rufswahl“ nicht nur ihre schulischen Leistungen leiden, sondern auch ihre Freundschaft. Pädagogik: Konsumverhalten, Umgang mit Persönlich- keitsrechten und Selbstbestätigung durch „Klicks“. 3. „Das verkaufte Glück“ von Manfred Mai; Ravensburger Buchverlag ; geeignet für Mädchen und Jungen bei normaler Leseleistung Inhalt: Ende des 19. Jahrhunderts. Jakob und sein Bru- der leben in einer kinderreichen Tiroler Bergbauern- familie. Die Brüder werden zusammen mit anderen Kindern ins Schwabenland geschickt, wo sie als billige Saison-Arbeitskräfte verkauft werden. Pädagogik: Blickt auf die Überflussgesellschaft, Werte- vermittlung, Gerechtigkeit und Nächstenliebe. 16 17 Kreis. BLICK ! — 2 — Dezember 2018 Jugendhilfe im Strafverfahren Die Brücke Dachau e.V. übernimmt als privater Träger in unserem Auftrag die Aufgaben der Jugendhilfe und der Strafrechtspflege. Im Februar vor genau 35 Jahren wurde die Brücke Dachau e.V. hier im Landratsamt gegründet. Ziel war es, die Jugendhilfe im Jugendstrafver- fahren zu etablieren und damit die gesetzlich vorgegebenen erziehe- rischen Reaktionsmöglichkeiten des Jugendgerichtes umzusetzen. Geschäftsführerin Ursula Walder sowie ihr Kollege Karl Hartmann sind Mitarbeiter des Landratsamtes. Drei weitere Pädagogen, eine Mit- arbeiterin der Verwaltung sowie zwei technische Mitarbeiter sind bei der Brücke Dachau e.V. angestellt. Die Brücke Dachau e.V.

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